Samstag, 14. Januar 2012

Entsprechen und Maßhalten

ANALOG und ANALOG

Eine aktuelle Richtung Deutschschweizer Architektur kennzeichnet sich durch eine seltsam austarierte, zugleich aber spannungsreiche Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit.(1) Den Entwürfen liegen offenbar Bilder zu Grunde, die sich einer unmittelbaren Einordnung oder Herleitung entziehen. Wie von selbst stellen sich Erinnerungen an Fernes oder Assoziationen an Unbestimmtes ein. Zugleich sind sie gebaute Rätsel und erfüllen doch präzis Zwecke. Das trotz aller Unterschiede gemeinsame kommt wohl aus der Herkunft eines Gutteils der Architekten aus einer zusammen durchlaufenen Schule, der sogenannten Analogen Architektur. Diese entstand in den 1980er Jahren an der ETH Zürich am Lehrstuhl von Fabio Reinhart und seinem Oberassistenten Miroslav Šik. Unter einer Vielzahl aktueller Namen seien als willkürlich gewählte Beispiele Christian Kerez, Andrea Deplazes, Conradin Clavuot oder Pia Durisch genannt, für Deutschland das Münchner Büro Hild+K.
Das Aufkommen der Analogen Architektur fiel in die 1980er, nachdem die in den 1970ern die anfangs stark von Glaubensstreitigkeiten bestimmte Revision der Moderne durch einen Glanz verbreitenden Pragmatismus abgelöst zu sein schien. Vergessen war das Ende des Nachkriegsbooms, mit dem auch der in seiner späten Phase vornehmlich von bauwirtschaftlichen Erwägungen bestimmte Funktionalismus in eine Krise geraten war. Die Rückkehr ins Gestern erschien vielen als Ausweg, während andere gleich lauthals 'anything goes' ausriefen. Diejenigen, die in die Zukunft durch ein Vergegenwärtigen der Vergangenheit wollten, führten gerne Begriffe wie kollektives Gedächtnis oder analoge Stadt im Munde.

Abb.1: Entwurfsstudie Autohaus in Oerlikon/Zürich, Andrea Deplazes, Bleistift auf Karton.

Analog bedeutete bei den Vertretern der Analogen Architektur etwas anderes als bei Aldo Rossi, der den Begriff in die Architekturdiskussion Ende der 1960er Jahre eingeführt hatte.(2) Beiden gemeinsam war der Versuch das Neue aus der bestehenden Stadt zu entwickeln, um diese zu einer Città analoga werden zu lassen, einer Stadt der Ungleichzeitigkeiten und Verschiedenheiten im Nebeneinander. Der Weg, den die Analogen dorthin vorschlugen, unterschied sich aber deutlich von Rossi. Dessen Verfahren gab sich rationalistisch und realistisch, der Inhalt dieser Begriffe sollte sich auf historischer Grundlage realisieren.(3) Damit war einerseits die Geschichte der Stadt gemeint wie die der Gattung der jeweiligen Bauaufgabe. Das implizierte Typologie als Mittel der Analyse wie als Entwurfsmethode. Zur Anwendung kommen sollten invariante, scheinbar überzeitlich gültige Formen.
Die Analoge Architektur ging dagegen vom vorgefundenen Bild der architektonischen Situation aus. Durch den baulich-räumlichen Eingriff sollte sich die am jeweiligen Ort eine aus dem genius loci entwickelte Poetik der Stimmungen entfalten. Die Entwurfsfindung wurde geleitet von der Idee der Einfühlung.
Beiden, Analogen wie der historisch-kritischen Methode der rationalistischen Tendenza ist der Widerspruch zur klassischen Moderne gemeinsam. Die bestehende Stadt sollte nicht mehr als reines Material dienen, die gänzlich nach pädagogisch-utopischen Vorstellungen umzuformen war, im schlimmsten Fall sogar gänzlich wie eine tabula rasa  zur Disposition stand. Mehr noch als die Tendenza postulierte Analoge Architektur die Akzeptanz des Vorhandenen, der architektonische Eingriff sollte nur retuschieren, nicht ganz neu interpretieren. Mit größerem Recht als jene kann sie mit dem Begriff realistisch belegt werden. Dieser Realismus war aber viel mehr Dirty Realism als der modernistisch unterlegte, beinahe aseptische Rationalismus der Tendenza.


Abb.2: Entwurfsstudie Autohaus in Oerlikon/Zürich, Conradin Clavuot, Bleistift auf Karton.


GEFRORENE BILDER

Charakteristisch für die Analogen waren die großformatigen A0-Perspektiven in einer ähnlichen Zeichentechnik, bei der vorwiegend mit abgestuften Bleistiftflächen und Kolorierung per Jaxonkreide gearbeitet wurde. Die bis ins scheinbar unbedeutende Detail ausgearbeiteten, düsteren und menschenleeren architektonischen Situationen verbreiten einen melancholischen Zauber. Verstärkt  durch den nicht aus dem arriviertem Erbe der Architekturgeschichte speisenden Bildvorrat erscheinen die Situationen in fremdem und seltsam entrücktem Licht, speisen sich aus der Schönheit der Peripherie. Beinahe lässt sich die Analoge Architektur als eine Art europäisches Learning from Las Vegas bezeichnen, welches das terrain vague der Zwischenstädte betreten hat. Der Betrachter wird in einen Schauplatz gezogen, der eher einer Filmhandlung ähnelt als einem statischen Bild. Die Bauten sind zugleich Mittelpunkt und Staffage, es blitzen Erinnerungen an Erlebtes oder Gesehenes auf, jegliche historische Referenz verschwimmt im Unbestimmten. Allerdings weist insbesondere Šiks Architektur eine gewisse Nähe zur organisch gegliederten Architektur der 1920er Jahre auf (Häring/Scharoun), auch stellen sich Assoziationen an Muthesius oder die Art Nouveau der britischen Inseln ein.
Im Gegensatz zur postmodernen Bricollage der collage city oder der denkmalpflegerischer Orthodoxie wird Alt und Neu nicht deutlich erkennbar nebeneinandergestellt, sondern verschmolzen.(4) Die Spuren sind verwischt, das Geschaffene wird eine ununterscheidbare Einheit aus Bestand und Hinzugefügtem. Historische Schichten sind nicht herauspräpariert, sondern zu einem einheitlichen Bild geronnnen.(5) Ziel dieser mimetischen Anähnelung, bei der die chaotischen und gehäuften Formen der Region zu einem exakten und komponierten Stil synthetisiert werden sollten, war ein besserer Alltag aus dem Alltag.

Abb.3: Entwurfsstudie Autohaus in Oerlikon/Zürich, Christian Kerez, Bleistift auf Karton.

ALTNEUES LOB DER MITTE

Ob das von den Analogen in die Diskussion eingeführte Wort von der "authentischen Populärkunst statt Insiderkunst" allerdings über die arrivierten Kreise der Architektenschaft hinauswirken konnte, muss bezweifelt werden. Dem Pathos des Aufbruchs folgten bald moderatere Töne. Aus dem als Kampfbegriff verwendeten Analog wurde bei Šik bald das Label Altneue Baukunst. Neue Innerlichkeit und der Subjektivismus der 1980er Jahre fanden hier ihren Ausdruck, beherscht von solider Beaux-Arts-Handwerklichkeit.
Die Tendenz zum Pragmatismus findet derzeit ihre Aktualisierung am Lehrstuhl Šik unter dem Label Midcomfort, mit dem sich das AltNeu einordnen will in eine Architektur der Reform, um den Kontakt zur Geschichte nicht abreißen zu lassen. Ob sich damit aber die angestrebte Resistenz gegen vorschnelle Abnutzung tatsächlich realisieren lässt, bleibt fraglich. Wahrscheinlicher wird lediglich eine weitere Sparte gehobenen Wohnungsbaus für verunsicherte Mittelschichten geschaffen. Die Rhetorik der Mitte findet ihren adäquaten Adressaten, um sich in ungemütlicher werdenden Zeiten in einen Kokon der Behaglichkeit zu flüchten. Über die Qualität der geschaffenen Räume besteht allerdings kein Zweifel. Wesentlich weitergegangen sind allerdings die Schüler von einst.

(1) Der vorliegende Text ist eine subjektive Betrachtung aus der Ferne, mit dem ich mir meine Faszination der aktuellen Deutschschweizer Architektur erklären will. Die, über die ich vorwitzig aus zweiter Hand schreibe, mögen die Dinge aus guten Gründen völlig anders sehen.
(2) Rossi, Aldo: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen (dt. Übersetzung), Düsseldorf 1973.
(3) Eine sorgfältig entwickelte Analyse und Kritik der typologischen Methode im Rahmen rationalistischer Architektur bietet vor allem Kuhnert, Nikolaus: Soziale Elemente der Architektur: Typus und Typusbegriffe im Kontext der Rationalen Architektur, Diss. Ing., Aachen 1979, der Rossi Idealismus und Formalismus vorwirft. Eine konträre oder zumindest komplementäre Position dazu nimmt Schnell, Angelika: Die sozialistische Perspektive der XV. Triennale di Milano. Hans Schmidts Einfluss auf Aldo Rossi. In: Candide. Journal for Architectural Knowledge No. 02 (07/2010), S. 33–72 ein, die auf den Einfluss sozialistischer Architekturtheorie auf Rossis Positionen hinweist. Der Typus Rossis ist demnach kein Rückgriff auf ursprüngliches, entzeitlichtes Formengut, sondern kollektives Produkt einer reifen Gesellschaft, also nicht reine, seiner sozialen Bestimmung entleerte Form, sondern in Form gebrachte Gesellschaft.
(4) Rowe, Colin und Fred Koetter: Collage City, Basel 1984 (dt. Übersetzung).
(5) Auf die Nähe von aktuellen Entwurfsstrategien wie dem Sampling oder Imagineering und der Analogen Architektur weist Bideau, Andre: True Stories. St. Antonius in Egg, 1988-1997, gebautes Bild der Analogen Architektur. In: Šik, Miroslav (Hrsg.): Altneu, Luzern 2000 (=De aedibus 2), S. 25-41, hier S. 36-41, hin.

Abbildungsnachweis
Abb. 1: Entwurfsperspektive von Andrea Deplazes aus Šik, Miroslav (Hrsg.): Analoge Architektur, Zürich 1987 [Ausst.-Kat.].
Abb. 2: Entwurfsperspektive von Conradin Clavuot aus Šik, Miroslav (Hrsg.): Analoge Architektur, Zürich 1987 [Ausst.-Kat.].
Abb. 3: Entwurfsperspektive von Christian Kerez aus Šik, Miroslav (Hrsg.): Analoge Architektur, Zürich 1987 [Ausst.-Kat.].

Literatur:
Analoge Architektur/Analogicka Architektura/Analogous architecture, hrsg. von der Schweizer Kulturstiftung, Prag 1990 [Ausst.-Kat.].
Moravánszky, Ákos und  Judith Hopfengärtner (Hrsg.): Aldo Rossi und die Schweiz. Architektonische Wechselwirkungen, Zürich 2011.
Šik, Miroslav (Hrsg.): Analoge Architektur, Zürich 1987 [Ausst.-Kat.].
Šik, Miroslav (Hrsg.): Altneu, Luzern 2000 (=De aedibus 2).
Šik, Miroslav: Versonntäglichung des Lebens – Film als moderne Analogie. In: Archithese 5/92, S. 67-70.

Weblinks:

2 Kommentare:

  1. Hi,

    Good post. Have you seen the Analoge Architektur Catalogue?

    Best,

    Cameron McEwan

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    1. Which Catalogue do you mean? The Zurich Catalogue (1987) or the Prague Catalogue (1990). I've seen both. The images above are taken from the Zurich Catalogue.
      I've seen your website and your works/PhD. Very interesting. Is your PhD finished now?
      Best,
      Klaus

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