Mir wurde damals, klar, dass -beziehungsweise war das der Anfang einer Bewusstwerdung -, dass man keine Manifeste mehr schreiben konnte, aber dass man stattdessen über Städte schreiben konnte, als seien diese selbst ein Manifest.
Rem Koolhaas
(In: Flaneure in Automobilen. Ein Gespräch mit Peter Fischli und Hans Ulrich Obrist über Learning from Las Vegas, im hier verwendeten Zitat auch zu Delirious New York.)
I.
Ist die Vorstellung von Stadt als Text nur eine weitere Metapher, um Unübersichtlichkeit und Komplexität des Urbanen besser zu fassen, wie von Karl Schlögel vermutet? (1) Oder kommt in ihr Grundsätzlicheres zum Ausdruck? Wird eine Analogie verwendet, die Wesensverwandtes trifft?
Im bisherigen Sprachgebrauch lassen sich zwei verschiedene Arten der Stadt-Lektüre unterscheiden. Zuerst eine objektiv erscheinende, deren wichtigste Arbeitsmittel Karte und Plan als abstrahierende Repräsentationen sind. Der Leser der Stadt wird zum olympischen Betrachter, der von oben, aus sicherer Warte, gleichsam sine ira et studio seinen Untersuchungsgegenstand ins Auge nimmt. Dies umgeht aber nur scheinbar und vorübergehend die Schwierigkeiten der Lektüre, denn der Text stellt sich in der Regel nicht als eindeutig heraus. Er birgt Rätsel, will mühsam entziffert und dechiffriert sein. Die Karte als Mittel, den Text "Stadt" zu repräsentieren, kann immer nur einzelne Aspekte darstellen. Noch schwieriger wird es, wenn das Moment der zeitlichen Entwicklung hinzutritt, der wesentlich für das Verständnis von Stadt ist. Durch die Reduktion von Komplexität, Wesen jedes analytischen Verfahrens, wird der rätselhafte Text zwar lesbarer, es bleibt aber die Schwierigkeit zu erklären, warum gerade dieser und nicht irgendein anderer Aspekt der Stadt in Karte bzw. Plan dargestellt worden ist.
Vielleicht auch deshalb hat sich eine zweite, komplementäre Art der Stadtlektüre herausgebildet. In ihr wird die Stadt durch den unmittelbaren Aufenthalt gelesen, durch zielloses Herumstreifen, planvolles Durchwandern, heute auch als Er-fahren mit dem Auto oder anderen Verkehrsmitteln. Direkt, unmittelbar, den Wirkungen des Urbanen ausgesetzt und trotzdem nie völlig zufällig. Vielleicht treffen diese Willkürlichkeiten unmittelbaren Erlebens direkt die Sache. Die Stadt als Ort von Komplexität und Widerspruch, der Verschiedenheit und Nicht-Identisches generiert.
II.
Die erste Lesart bedient sich bei der Entzifferung des Textes der analytischen Zergliederung in Einzelelemente, welche gleichsam die einzelnen Worte bilden. Daneben wird versucht, die sie verbindenden Strukturen zu verstehen. Oder konkret ausgedrückt: die einzelnen Worte des Stadt-Textes sind die verschiedenen Gebäude, die zu Haustypen zusammengefasst werden können. Die verbindende Grammatik ist dagegen das Erschließungs- und Parzellensystem. Einem solchen Verständnis von Stadt hat sich bislang am feinsten Italien genähert, wofür Namen wie Saverio Muratori, Gianfranco Caniggia und Carlo Aymonino stehen. Von diesen wurde die Mikroanalyse städtischer Strukturen im historischen Längsschnitt als Methode entwickelt.(2) Im Mittelpunkt stand das Erschließungsnetz, von dem ausgehend Entstehungsmechanismen, Aggregationszustände und Transformationsprozesse urbaner Strukturen nachvollzogen wurden. Daneben hatte sich ein neuer Typologie-Begriff herausgebildet, dessen Grundlage die Permanenz des urbanen Gefüges und seiner Einzelelemente bei gleichzeitigem Wandel auf allen Maßstabsebenen war. Die Bedeutung sich ändernder Funktionen und Nutzungsansprüche bei diesen Transformationsprozessen wurde zwar akzeptiert, aber nicht als vorrangig angesehen. Form folgt eben nicht unmittelbar der Funktion. Architektonische Prozesse weisen eigene, autonome Muster auf. Oft verbunden mit dieser Lesart ist eine weitere Metapher, die ebenfalls auf Schrifthaftes abzielt: Stadt als Palimpsest, als ein immer wieder ausradierter und überschriebener Text, in dem ungleichzeitig Entstandenes nebeneinander steht. In der Stadt bildet sich nicht Geschichte ab. Sie ist die Geschichte, die uns gegenwärtig im täglichen Gebrauch als verräumlichte und vergegenständlichte entgegentritt.(3)
In Anleitung zu Architekturpraxis übersetzte diese Auffassungen von Stadt Aldo Rossi, in dessen Traktat L'architettura della città Ort und Geschehen wichtiger werden als die abstrakten Begriffe Raum und Zeit, die noch bei Siegfried Giedion wesentlich für die Moderne waren. Nicht die Anpassung an geänderte Funktionen, sondern Weiterführung von Bauformen soll Gedächtnis und Geschichtlichkeit und damit das Wesen einer Stadt und ihrer Bewohner sichern. Dabei wird in primäre (Monumente) und sekundäre Elemente (von anonymen Bauten gebildetes Stadtgewebe) unterschieden. Erstere sind wesentlich für die Stadt und müssen erhalten werden, zweitere sind ersetzbar, sollen aber durch typologisches Fortschreiben das kulturelle Gedächtnis ihrer Bewohner wahren.(4) Daneben hat Rossi für den Entwurfsprozess noch eine weitere Methode entwickelt, die neben der Weiterführung typologischer Strukturen mit kollektivem und individuellem Bildmaterial arbeitet und damit den Weg der durch Analyse gewonnenen Fortschreibung vorgefundener Strukturen verlässt: die Città analoga, bei der Bestehendes mit Entferntem und Erinnertem zu bildhaften Kompositionen verschmolzen werden, deren Neuartigkeit aber durch den Rückgriff auf Bekanntes abgesichert ist. So soll ein Abgleiten ins Historistische vermieden. Bilder werden als Material verwendet, deren Bedeutung aber offen ist. Neues Bauen als Möglichkeit einer recherche du temps perdu.(5)
Abb. 1: Capriccio von Giovanni Antonio Canaletto (ca. 1743/44, Nationalgalerie Parma), an dem Aldo Rossi seine Vorstellung der Città analoga gebildet hat. Stadt als Komposition aus gebauten und ungebauten, nahen und entfernten Gebäuden.
Diese Verfahren mögen ihre Berechtigung für alle Siedlungsgefüge haben, in denen historische Strukturen gleich welcher Zeitschicht bestimmend sind. Die Stadt der Gegenwart ist aber heute auch, vielleicht sogar wesentlich, eine am Rand und im Dazwischen der bestehenden Siedlungskörper. Wie lässt sich hier die Idee der Permanenz fortführen? Und wie lassen sich Typen fortschreiben, die Nutzungen für noch nie Dagewesenes aufnehmen sollen? Das Problematische von Analogie und typologischer Fortschreibung zeigt sich an Rossis Architektur selbst, die bereits nach wenigen Jahrzehnten völlig überkommen wirkt. Und dies, obwohl von Rossi doch immer die tiefe geschichtliche Dimension der von ihm verwendeten Formen betont worden ist, die einem angeblich überzeitlichen archetypischen Fundus entnommen sein sollen.
III.
Flanierend nimmt man eine Art Lektüre der Straße wahr, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Cafe-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte ergeben. Um richtig zu flanieren, darf man nichts allzu Bestimmtes vorhaben.
Franz Hessel
Mit der Verwendung von Bildern und deren Kombination aus Erinnertem und Vorgefundenem ist die analoge Stadt dem zweiten Verständnis von Stadtlektüre verwandt. Gelesen wird hier nicht mit Hilfe der Karte sondern durch unmittelbaren Aufenthalt. Historisch mit vergangener Moderne und Großstadt des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden, verkörpert sich die Stadtlektüre in der Figur des Flaneurs, der die Stadt liest, in dem er all die Bilder in sich aufnimmt, die in ihr hausen und die sich seiner bemächtigen. Mittel der Lektüre ist die Bewegung durch die Stadt. In einer Art Straßenrausch ist der Flaneur nicht am umfassenden Panorama interessiert, sondern am Ausschnitt und am Detail. In den Außenräumen findet die Bewegung statt, die zu Projektionsflächen für das Innenleben werden. Es wird nur aufgezeichnet und wiedergegeben, nichts durchdrungen oder verarbeitet. In den blitzartig aufleuchtenden Denkbildern liegen Erinnern und Vergessen unmittelbar nebeneinander. Der Flaneur ist zugleich in der Stadt und doch ganz außer sich und exterritorial.
Seit dem Ende der Großstadt und dem Aufkommen von Stadtregion und Scape© ist die Figur des Flaneurs Vergangenheit. An Stelle des Flanierens ist vielleicht das Cruisen im Auto als die Form einer alternierenden Stadtlektüre getreten, oder das als dérive bezeichnete, zugleich absichtslose wie forschende Herumstreunen der Situationisten in beweglichen Szenarien.
(1) Schlögel, Karl: Städte lesen, Stadtpläne. In: Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, 2. Aufl., Frankfurt/Main 2007, S. 304-313, hier S. 309.
(2) Am ausführlichsten für den deutschen Sprachraum ist die italienische Methode der Stadtmorphologie dokumentiert in Malfroy, Sylvain: Eine Einführung in die Terminologie. In: Die morphologische Betrachtungsweise von Stadt und Territorium, hrsg. von der Architekturabteilung der ETH Zürich. Geschichte des Städtebaus, Zürich 1986, S. 13-260. Die grundlegenden Begriffe werden hier besonders auf den Seiten 179 bis 223 dargestellt und entwickelt.
(3) Gleiches gilt für das Territorium bzw. die Kulturlandschaft mit ihren ländlichen Siedlungen und Nutzungsstrukturen, in dem aber die unter menschliche Zwecke gesetzte Natur noch wesentlich präsenter ist. Vgl. Corboz, Andre: Territorium als Palimpsest. In: Corboz, Andre: Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zum bringen, Basel/Boston/Berlin 2001 (=Bauwelt Fundamente 123), S. 143-165.
(4) Winfried Nerdinger hat auf den verkürzten Begriff des kulturellen Gedächtnisses bei Aldo Rossi hingewiesen, den dieser bei Maurice Halbwachs entlehnt hat. Nerdinger, Winfried: Stadt als gebautes und kollektives Gedächtnis. In: Wolfrum, Sophie und Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Susanne Schaubeck (Hrsg.): Multiple City. Stadtkonzepte 1908-2008 [Ausst.-Kat.], Berlin 2008, S. 74-76.
(5) Steinmann, Martin, Jacques Lucan und Bruno Marchand: Neuere Architektur in der Deutschen Schweiz. In: Dieselben: Schriften 1972-2002, S. 93-110, hier S. 99f.
Abbildungsnachweis
Abb. 1: http://www.lucafalconi.it/wp-content/uploads/2007/07/canaletto.gif
Weblinks:
Für die Fortführung der Idee der analogen Architektur steht heute vor allem der in Zürich arbeitende und lehrende Miroslav Sik:
http://www.sik.arch.ethz.ch/
Zur Theorie des Umherschweifens bei den Situationisten:
http://www.si-revue.de/theorie-des-umherschweifens
Literaturauswahl:
Die morphologische Betrachtungsweise von Stadt und Territorium, hrsg. von der Architekturabteilung der ETH Zürich. Geschichte des Städtebaus, Zürich 1986.
Archplus 85 (1986). Titel: "Was für'n Typ?" (Themenheft zu Typologie und Stadtmorphologie),
Benjamin, Walter: Die Wiederkehr des Flaneurs. In: Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, Berlin 1984 (Wiederauflage), S. 277-281.
Butor, Michel. Stadt als Text, Graz 1992.
Corboz, Andre: Territorium als Palimpsest. In: Corboz, Andre: Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zum bringen, Basel/Boston/Berlin 2001 (=Bauwelt Fundamente 123), S. 143-165.
Fischli, Peter, Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist: Flaneure in Automobilen. In: Stadler, Hilar (Hrsg.): Las Vegas Studio. Bilder aus dem Archiv von Robert Venturi und Denise Scott Brown [Ausst.-Kat.], Zürich 2008, S. 161-171.
Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, Berlin 1984 (Wiederauflage).
Kracauer, Siegfried: Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 2004.
Lampugnani, Vittorio Magnano: Die Erfindung der Erinnerung. Das Abenteuer der typologischen Stadt in Italien 1966-1997. In: Meier, Hans-Rudolf (Red.): Bauten und Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000 (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich 21), S. 145-157.
Leon, Hilde: Die venezianische Schule. Nachlese zu Archplus 85. In: Archplus 86 (1986), S. 89f.
Malfroy, Sylvain und Frank Zierau: Stadtquartiere vom Webstuhl - Wie textile Metaphern ab 1980 die Komplexität der Stadt veranschaulichen. In: Wolfrum, Sophie und Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Susanne Schaubeck (Hrsg.): Multiple City. Stadtkonzepte 1908-2008 [Ausst.-Kat.], Berlin 2008, S. 77-82.
Nerdinger, Winfried: Stadt als gebautes und kollektives Gedächtnis. In: Wolfrum, Sophie und Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Susanne Schaubeck (Hrsg.): Multiple City. Stadtkonzepte 1908-2008 [Ausst.-Kat.], Berlin 2008, S. 74-76.
Rossi, Aldo: Die Architektur der Stadt. Skizzen zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen (dt. Ausgabe), München 2002.
Rowe, Colin und Fred Koetter: Collage City (dt. Ausgabe), Basel/Boston/Berlin 1984 (=Schriftenreihe des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich 27).
Schlögel, Karl: Städte lesen, Stadtpläne. In: Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, 2. Aufl., Frankfurt/Main 2007, S. 304-313.
Wolfrum, Sophie: Tessuto Urbano. Stadt als kollektives Gedächtnis. In: Wolfrum, Sophie und Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Susanne Schaubeck (Hrsg.): Multiple City. Stadtkonzepte 1908-2008 [Ausst.-Kat.], Berlin 2008, S. 72f.