Samstag, 8. August 2009

Stadtlektüre - New York 1

-GRID-


Vorentwurf zur Stadterweiterung New Yorks 1807Die Geschichte New Yorks und damit die der amerikanischen Stadt ist eine Geschichte der Emanzipation von Europa. Dies war bereits in den Anfängen enthalten, kommt aber erst mit dem Aufstieg New Yorks zur Hauptstadt des 20. Jahrhunderts zur vollen Geltung. Grundlage von europäischer Barockstadt wie nahezu zeitgleich gegründeter amerikanischer Stadt ist das hippodamische System. Während sich aber in Europa über die Geometrie des Rasters die unumschränkte Gewalt des absolutistischen Herrschers ausdrückt, dient der Grid in Nordamerika zuallererst der einfachen und optimalen Bodenverwertung. Ohne über Achsen und freigestellte und dadurch herausgehobene Einzelbauten der Komposition eines hierarchisch aufgebauten Gesamtgefüges zu dienen, wird das Raster, schematisch und potentiell bis ins Unendliche reichend, über die noch unbearbeitete Landschaft geworfen. New York bzw. dessen ideelle und geographische Mitte Manhattan ist prototypisch für diese Form von Stadt, zugleich nimmt es aber eine Sonderstellung ein. Manhattans Form als Halbinsel beschränkte die Ausdehnung in die Fläche, dagegen bedingte die Lagegunst als Eingangstor zur Neuen Welt das ungestüme Wachstum der Stadt. Regelmäßigkeit im Grundriss wie Wuchern in der dritten Dimension waren die Folgen.

Die Keimzelle New Yorks war eine im 17. Jahrhundert von den Holländern gegründete Festung mit Siedlung auf der Südspitze Manhattans. Ein unregelmäßiges Straßensystem kennzeichnete diese Kolonialstadt, die um 1800 zu klein geworden war, um die erwarteten Menschenmassen aufzunehmen. 1811 wurde endgültig ein Plan für die Stadtausdehnung fixiert (Commissioner's Plan), der vorsah, die etwa 21 Kilometer lange und im Schnitt nur drei Kilometer breite Halbinsel mit einem strikten Raster zu überziehen, das aus zwölf breiteren Avenuen in Nord-Süd-Richtung und vorerst 155 Straßen (später 215) in Ost-West-Richtung bestand. Der Manhattan-Grid aus (vorerst) 2028 Blocks von 7500 auf 225 Fuß (ca. 228x68 Meter) wird einzig durch den schräg verlaufenden Broadway gestört, ein bereits von den American Natives geschaffener Weg, der einen Höhenrücken in Mitte der Halbinsel nachzeichnet. An den Schnittstellen zwischen Netz und Broadway sind die wenigen Freiräume (Plätze, Parks) situiert, die neben den Straßen existieren. Weitere Freiräume entstehen durch das Nichtbebauen von Blockeinheiten, die großflächige Einheiten bilden, von denen besonders der 1859 angelegte Central Park hervorzuheben ist.

Nicht zu Unrecht hat Rem Koolhaas in seinem großartigen Theoriefragment über den Manhattanismus das New Yorker Raster als eine konzeptuelle Spekulation bezeichnet.(1) Es zwang dazu, Strategien zu ersinnen, mit denen ein Block durch das Mittel der Architektur vom anderen unterschieden werden konnte. Denn Bedeutung im Stadtraum kann sich nur innerhalb des Systems seriell gereihter Einheiten herstellen.(2) Sakral- und öffentlicher Bau sind ebenso wie Wohn-, Miets- und Geschäftshaus an den immergleichen Block mit seinen vierkantigen Straßenwänden gebunden. Prestige wird über Größe, Maßstab und Fassade generiert, während der Baukörper (zumindest in der Sockelzone) an Bedeutung einbüsst. Der maximal von Architektur zu kontrollierende Bereich beschränkte sich auf einen Block. Durch die weitgehend unreglementierte Freiheit im Aufriss nutzte man die Möglichkeiten, welche die Wiederholung des Immergleichen bot. "Die Stadt wird zu einem Mosaik von Episoden, jede mit ihrer individuellen Lebensdauer, die über das Medium des Rasters miteinander konkurrieren."(3) Seriell gereihte Starrheit des Rasters als Mittel zur Schaffung von Individuellem, Ungeordneten und Fragmentarischen. New York wird dadurch zum Gegenbild der europäischen Moderne. Narrativ und pragmatisch, nicht dogmatisch und normativ.


(1) Koolhaas, Rem: Delirious New York, Aachen 2002 (2. Auflage), S.22.
(2) Am nahesten war noch die barocken Stadterweiterungen Turins dem amerikanischen Modell. Hier standen die Baumeister vor dem gleichen Problem, öffentliche Bauten aus den Bindungen des Rasters zu entwickeln und dabei deren Bedeutung im Stadtraum darzustellen. Die Architektur Guarinis mit ihren kunstvoll kurvierten Fassaden und Innenräumen lebt von dieser Spannung. Klotz, Heinrich: Das Chicagoer Hochhaus als Entwurfsproblem. In: Zukowsky, John (Hrsg.): Chicago Architektur 1872-1922. Die Entstehung der kosmopolitischen Architektur des 20. Jahrhunderts, S. 63f.
(3) Koolhaas, 2002, S.22.

Literaturauswahl:
Koolhaas, Rem: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan (2. Auflage), Aachen 2002.
Homberger, Eric: The historical Atlas of New York, New York 1994.

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