Montag, 13. Juni 2011

Stadtlektüre - Nicosia 2

-ÜBERLAGERUNG UND STAGNATION-

1572-1876
Die osmanische Zeit ist eine der diskontinuierlichen Stadtentwicklung und des Stadtumbaus nach neuen Bedürfnislagen. Am Anfang stand die Vertreibung der lateinischen Oberschicht, deren Land und Besitz die Eroberer sich selber aneigneten oder an Zuwanderer  übertrugen. Die Peuplierung der Insel diente der Integration ins osmanische Herrschaftsgefüge, was teilweise verbunden war mit einer Abschiebung unbequemer Minderheiten aus dem anatolischen Kerngebiet des Reichs.(1) Für die griechisch-orthodoxe Bevölkerungsmehrheit bedeutete die neue Herrschaft Befreiung vom feudalen Joch und Integration in das multiethnische osmanische Gemeinwesen über das Milletsystem, was mit religiöser Autonomie und garantierten Minderheitenrechten auf der Basis von Sondersteuern verbunden war. Alte und neue Bevölkerungsgruppen lebten aber räumlich wie kulturell weniger mit- als nebeneinander. War Zypern zu venezianischer Zeit noch eine wichtige Drehscheibe im Orienthandel, so wurde die osmanische Zeit eine des stetig fortschreitenden Bedeutungsverlusts und der Provinzialisierung, was besonders für die Niedergangszeit des 18. und 19. Jahrhundert galt. Ende des 16. Jahrhunderts hatte Zypern 190.00 Einwohner, 1841 nur noch 108.600.

Die Stadtentwicklung Nicosias blieb auf Areal innerhalb der Festungsanlagen beschränkt, wenn es auch zu Beginn der osmanischen Herrschaft Siedlungsansätze außerhalb gegeben hatte, die später aber wieder aufgeben wurden. Die Festungsanlagen verfielen zunehmend, da sie ihre Funktion verloren hatten, gaben der Stadt aber einen festen Entwicklungsrahmen. Der innere Stadtraum wurde durch keine durchgreifende Planung neu geordnet, sondern das Vorgefundene wurde je nach Bedürfnislage angeeignet und sukzessive umgestaltet.(1) Nicosia nahm während dieses Prozess die Merkmale einer orientalischen Stadt an, wovon auch europäische Reiseberichte des 16. und 17. Jahrhunderts Kunde geben.(2) Funktional-baulich wird die Mitte der orientalischen Stadt in der Regel durch  Kultbauten und Sozialeinrichtungen sowie einem benachbarten Geschäftsviertel bestimmt. So wurde in Nicosia die bestehende Sophien-Kathedrale in die Selimiye-Moschee umgewandelt, an die sich neue Bauten der sozialen Fürsorge sowie der Basarbereich anlagerten. Dieses Areal wuchs sukzessive und additiv, wofür die ehemalige Marienkirche neben der Selimiye-Moschee in eine Markthalle umgewandelt wurde (heutiger Bedesten). Auch entstanden weitere nach Gewerben differenzierte Ladenstraßen.(3) Zu den neuen Sozial- bzw. Handelseinrichtungen gehörte das 1572 errichtete, erste genuin türkische Gebäude Nicosias: die Karawanserei Büyük Han, die als Herberge und Umschlagstation für den Groß- und Fernhandel diente. Des Weiteren Medressen (Koranschulen), Bibliotheken, Gerichtsgebäude (ehem. Sitz des lat. Erzbischofs), Badehäuser, Brunnen und weitere Hane (Herbergen bzw. Umschlagplätze für den Großhandel).(4)
Das innere Erschließungssystem Nicosias wies ebenfalls Merkmal einer orientalischen Stadt auf, wobei aber trotz des labyrinthischen Stadtgrundrisses die für arabische und andere osmanische Städte charakteristische starke Differenzierung in Hauptdurchgangsstraßen und beinahe halbprivate Wohnviertel mit ihren sukzessive verdichteten, verzweigten Sackgassengrundrissen nicht so stark ausgeprägt war. Hauptachse war die durch Umleitung und Zuschütten des alten Pediaios-Laufes entstandene West-Ost-Straße vom Paphos-Tor zur Selimiye-Moschee, die den Stadtkörper nahezu mittig teilt.
Das Millet-System schlug sich räumlich als für das osmanische Herrschaftsgebiet typische Mahalle-Struktur nieder, in dem die einzelnen ethnisch-religiösen Bevölkerungsgruppen rechtlich, wirtschaftlich und kulturell in eigenen Wohnquartieren separiert waren. Zeitgenössische Berichte weisen darauf hin, dass die Quartiere durch verschließbare Tore voneinander getrennt waren wie in anderen islamischen Städten. Allerdings bot der überkommene Stadtgrundriss Nicosias längst nicht die Voraussetzungen einer strikten Separierung wie die engräumigen Sackgassenstrukturen anderer Regionen Vorderasiens.


Abb. 1:
Verteilung von während der osmanischen Zeit entstandenen bzw. umgewidmeten Bauten mit öffentlicher Funktion im Bestand der Stadt (Stand 1961).

In den Wohnvierteln war es sukzessive im Laufe der Jahrhunderte zu einer Verdichtung und Verkleinerung der Parzellen gekommen. Charakteristisch waren kleine Innenhofhäuser, an die sich baumbestandene Gärten anschlossen.(5) Der Großteil wurde bis weit ins 19. Jahrhundert aus ungebrannten Lehmsteinen errichtet, die innen weiß gekalkt waren. Diese entstanden oft auf Steinfundamenten aus noch vorosmanischer Zeit.
Ein Beispiel für ein Innenhofhaus der griechischen Oberschicht bietet das Wohnhaus des Dragomans Chatzigeorkakis Kornesios, an dem sichtbar wird, dass auch von Christen Bauweise und Gewohnheiten der dominanten islamischen Gesellschaft übernommen wurden. An der Orientierung des Wohnhauses nach innen wird die starke Privatheit des städtischen Lebens in der islamischen Stadt erkennbar. Das zweigeschossige Herrenhaus (gr. archontiko) mit für die Zeit außergewöhnlich aufwendiger, straßenseitiger Sandsteinfassade weist einen u-förmigen Grundriss auf. Im Erdgeschoss waren Ställe und Wirtschaftsbereiche angeordnet, im Obergeschoss die privaten Wohnräume. Ein vorkragender Erker aus Holz ermöglichte den Ausblick von den Wohnräumen auf die Straße. Innerhalb der begrenzten Autonomie des Milletsystems übte der Dragoman (eigentlich 'Dolmetscher') die Funktion des Steuereinziehers für die griechische Bevölkerung aus, während der Erzbischof als Ethnarch die politisch-religiöse Führungsrolle übernahm.

Abb. 2 und 3:
Foto und Schnitt durch das Ende des 18. Jahrhunderts errichtete Herrenhaus des Dragomans Chatzigeorkakis Kornesios.


-BESATZUNG UND WACHSTUM-

1876-1960
Als Gegenleistung für die Unterstützung des osmanischen Reiches gegen russische Ausdehnungsbestrebungen erhielt Großbritannien 1876 Zypern, wobei die Hohe Pforte sich aber Souveränitätsrechte vorbehielt. Erst 1925 wurde die Insel endgültig britische Kolonie. Nicosia wirkte zu Beginn der britischen Zeit völlig vernachlässigt und wies den Charakter einer kleinen osmanischen Provinzstadt auf. Bei schematischer Betrachtung hatte die Stadt für europäische Augen vier nach funktionalen und ethno-religiösen Gesichtspunkten geteilte Viertel: Konak-Viertel (NW, Verwaltungszone), Selimiye-Viertel (NO, türk.), Kathedralenviertel(SO, gr.-orth.) und das Levantiner-Viertel (SW, ethn. Minderheiten der Maroniten, Armenier und Lateiner).(6) Nach der bereits in osmanischer Zeit eingeführten administrativen Gliederung zeigte die Quartiersstruktur Nikosias sich aber differenzierter (vgl. Abb. 4). Die Stadt hatte 25 Wohnviertel, die prinzipiell bis heute fortbestehen. Die griechischen Wohnquartiere konzentrierten sich im Süden, vereinzelt auch im Osten und Norden, während Türken vor allem die Mitte und den Norden bewohnten. Auffallend ist der enge Zusammenhang zwischen Wohnquartier und zugeordneten Sakralbauten der jeweiligen Bevölkerungsgruppe.



Abb. 4:
Quartiere und ethnische Dominanz 1878.


Der koloniale Stadtumbau Nicosias war bezogen auf baulich-räumliche Strukturen wesentlich weniger stark als in anderen Regionen des british empire. Allerdings gab es durchaus Ansätze zu einer für Kolonialstädte typischen bipolaren Struktur zwischen einer Stadt der Einheimischen und einer Stadt der Kolonisatoren.(7) So entstand außerhalb der Festungsanlagen im Norden ein Wohnviertel für die britischen Verwaltungs- und Armeeangehörigen. Der Großteil der Verwaltungsbehörden war allerdings in Nachfolge der osmanischen Herrschaft im Nordwesten der Altstadt angeordnet (u.a. Gouverneurspalast, General Postoffice etc.). Seit der Jahrhundertwende gab es Ansätze zur Citybildung, bei der sich Geschäftsstraßen als Konkurrenz zum Basar herausbildeten, so die bis heute wichtige Ledra Street. Auch wurde das labyrinthische Straßensystem partiell durch Straßendurchbrüche und -aufweitungen systematisiert, um ein leistungsfähigeres Erschließungssystem herzustellen, wodurch prinzipiell vier durch die Durchgangsstraßen getrennte Großquartiere entstanden, welche die Raumstruktur der Altstadt bis heute prägen. In Ergänzung wurde der Festungsring partiell für den Verkehr geöffnet und eine Ringstraße um die Altstadt gezogen, was Voraussetzung für Stadterweiterungen war. Allerdings blieb bis in die 1930er Jahre Stadtentwicklung weitgehend auf den Stadtkern beschränkt. Erste Wachstums- und Verdichtungstendenzen zeigten sich in den 1940er und 50er Jahren um die außerhalb liegenden Dorfkerne und entlang der Verbindungsstraßen zu diesen.
Mit Zunahme der Unabhängigkeitsbestrebungen, die in den 1950er Jahre militante Züge annahm, wurde auch die Situation in Nicosia angespannter. So hatte die griechische Untergrundorganisation EOKA den bewaffneten Kampf gegen die Briten aufgenommen und forderte den Anschluss Zyperns an Griechenland (Enosis).  Bei der Herrschaft über die Insel und verstärkt bei der Aufstandbekämpfung bedienten sich die Kolonialbehörden der türkischen Minderheit, was den ethnischen Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen zusätzlich verschärfte. Bereits 1956 kam es zu ersten Auseinandersetzungen in der Altstadt, die zu einer Flucht Betroffener in die Stadtteile führte, in der sie die Mehrheit stellten. 

-KONFLIKT UND TEILUNG-

seit 1960
Mit der Unabhängigkeit 1960 begann der Zypernkonflikt zu eskalieren, da griechische Mehrheit und türkische Minderheit sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft einigen konnten. Während das Ziel einer großen Mehrheit unter den Griechen die Vereinigung Zypern mit Griechenland war (Enosis), forderten große Teile der Türken die Spaltung in einen griechischen und einen türkischen Inselteil (Taksim). Die kontinuierliche Zunahme der Spannungen endete 1963/64 in pogromartigen Ausschreitungen rechtsgerichteter griechischer Milizen gegen die türkische Bevölkerung. Diese zog sich in vom zypriotischen Staat abgeschnittene und belagerte Enklaven zurück, die in der Folgezeit notdürftig durch die Türkei versorgt wurden. Die Insel war damit bereits kurz nach deren Unabhängigkeit faktisch in einen Flickenteppich unterschiedlicher Loyalitäten geteilt. Der Norden Nicosias wurde zur Enklave, durch einen schmalen Korridor mit auf der Südseite des Pentadaktylusgebirge gelegenen türkischen Siedlungsgebiet verbunden. Im Wesentlichen entsprach die nach der türkischen Invasion 1974 fixierte Grenzzone in der Stadtmitte der bereits damals gezogenen green line, die von einem britischen UNO-Offizier auf einem Stadtplan festgelegt wurde. Endgültig wurde die Teilung durch die türkische Invasion 1974 nach einem von der festlandsgriechischen Junta initiierten Militärputsch, der aber durch die türkische Besetzung zusammenbrach. 37% des nördlichen Territoriums wurde von türkischen Truppen besetzt, die jeweils andere Bevölkerung in deren Landesteil vertrieben. Heute existieren faktisch zwei zypriotische Staaten, wenn auch der Norden international nur von der Türkei anerkannt wird. Trotz wiederholter internationaler Bemühungen steht eine Konfliktlösung bislang aus.

Abb. 5:
Green Line nach dem Waffenstillstand 1974.

-DIVIDED CORE-

Nicosia ist zugespitzter Widerspruch, Ort extremer Überlagerungen und Paradoxien.  Während das  Weichbild der Altstadt durch seine Kreisform stark und geschlossen wirkt, beinahe ein Idealbild von Logik und Ordnung darstellt, ist deren Füllung chaotisch und labyrinthisch. Ein räumliches Nebeneinander verschiedener Zeitschichten. Textur als Palimpsest, in jeder historischen Phase partiell ausradiert und neu beschrieben. Die geschlossene Figur ist heute zerschnitten durch eine Grenze, die aus eins zwei macht. Zellteilung eines Nukleus, von dem beide Städte nach außen in verschiedene Richtungen wachsen. Verdopplung in einer Form als Folge der wechselhaften Geschichte, deren leidvolle Seite bis heute spürbar ist.



Abb. 6, 7 und 8:
Nicosia als Stadt des Konflikts und der Widersprüche. 
Grenze - Alt und Neu - große und kleine Maßstäbe.
6: Green Line am Paphos-Tor bei katholischer Kirche
7: Häuser im Trophane-Viertel
8: Häuser im Omeriye-Viertel mit Blick auf Ermes-Hochhaus in der Ledra Street



(1) Zur Besonderheit des Stadttyps der orientalischen Stadt sowie deren räumlich-funktionaler Charakteristika siehe v.a. Wirth, Eugen: Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien, Bd. I, Mainz 2000, S. 7-14. Zur Diskussion, ob Nicosia als orientalische Stadt zu betrachten sei, siehe Wellenreuther,  Ronald: Nikosia-Nord (Zypern). Stadtentwicklung und Sozialraumanalyse einer geteilten Stadt zwischen Orient und Okzident, München 1996 (=Wirtschaft und Gesellschaft in Südosteuropa 12), S. 138-158.
(2) So schildert der ukrainische Reisende Vasilij Grigorowic Bars`kyj (1701-1747) aus Kiew Nicosia bei einem Besuch 1727 als Stadt der Gärten und wenig anschaulichen Häusern. Der deutschbaltische Reisende O.F. von Richter macht 1816 eine ähnliche Beschreibungen und gibt an, die Stadt habe 16.000 Einwohner. Beide äußern sich auch über den schlechten Zustand der Festungsanlagen. http://www.schwarzaufweiss.de/Nordzypern/nicosiahistorisch.htm
(3) Zum Typologie des Basars siehe auch Wirth, 2000, S. 103ff.
(4) Von den insgesamt ehemals acht Khanen um die Selimiye-Moschee sind heute nur noch zwei erhalten, der Büyük Han und der Kumarcilar Han. Wellenreuther, 1996, S. 139.
(5) Der rezente Gebäudebestand der Altstadt von Nicosia wird nur noch in Teilbereichen von orientalischen bzw. osmanischen Innenhofhäusern bestimmt. Der Großteil der Häuser stammt aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert und weist andere, eher westliche Merkmale auf. Wellenreuther, 1996, S. 145-152.
(6) Wellenreuther, 1996, S. 58. Hier wird die 1879 gemachte räumlich-funktionale Beschreibung durch den britischen Reisenden W. Hepworth Dixon wiedergegeben.
(7) Wellenreuther, 1996, S. 64-67.


Guter Weblink mit ausführlicher Darstellung des Zypern-Konflikts:
http://www.histinst.rwth-aachen.de/aw/cms/HISTINST/Zielgruppen/neuzeit/projekte/lexikonzeitgeschichte/~vpr/zypernkonflikt_seit_1945/?lang=de


Abbildungsnachweis:
Abb. 1: Grafik und Kartierung vom Verfasser auf Grundlage Stadtplan 1961. In: Hillenbrand, Klaus: Ethnische Konflikte im urbanen Raum. Das Beispiel Nikosia, Berlin 1994.
Abb. 2: Foto des Verfassers, Juli 2010.
Abb.3: Schneider, Andreas: Zypern, Köln 1988 (=Dumont Reiseführer), S. 160.

Abb.4: Grafik des Verfassers nach Kartierung in: Wellenreuther, 1996, S. 61.
Abb. 5: Grafik des Verfassers. Verlauf der Green Line nach aktuellem Stadtplan.
Abb. 6-8: Foto des Verfassers, Juli 2010. 

Literaturauswahl:
Keshishian, Kevork: Capital of Cyprus. Now and then, 2. Aufl., Nicosia 1990.
Fiene, Eckart: Lefkosa - Nicosia-. Geschichte und Sehenswürdigkeiten, Hannover 1994.
Gürle, Cevdet: Die "Zypern-Frage" - Im Spannungsverhältnis zwischen Ankara und Athen, Diss., Münster 2004.
Hillenbrand, Klaus: Ethnische Konflikte im urbanen Raum. Das Beispiel Nicosia, Berlin 1994.
Wellenreuther, Ronald: Nikosia-Nord (Zypern). Stadtentwicklung und Sozialraumanalyse einer geteilten Stadt zwischen Orient und Okzident, München 1996 (=Wirtschaft und Gesellschaft in Südosteuropa 12).
Wirth, Eugen: Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien, 2. Bd., Mainz 2000.

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