Freitag, 13. November 2009

Stadtlektüre - Tirana

-BIRTH OF A NATION-

Tiranas Stadtgestalt reflektiert die Geschichte Albaniens als verspäteter Nationalstaat, der, gebildet aus den Konkursmassen des Osmanischen Reiches, mehr Kalkül konkurrierender Mächte war als Wunsch der Bevölkerung.(1)
Gut ablesbar haben sich alle Zeitschichten des rasanten Wandels von einer unbedeutenden Kleinstadt zur Hauptstadt sedimentiert. Gelegen am Schnittpunkt zweier Handelsstraße, standen am Anfang kleine freistehende, höchstens dreigeschossige Häuser, die sich unregelmäßig um eine Moschee und einen Basar scharten. Dazu kamen im 18- und 19. Jahrhundert  weitere, ähnlich aufgebaute Siedlungskerne auf dem heutigen Stadtgebiet.(2) Der Wille zur Darstellung der neuen Nation überformte unter Anleitung des auf Expansion setzenden Nachbarn Italien diese kleinmaßstäblichen Siedlungsgebilde durch die Anlage weit gespannter Achsen, eines radialen Straßensystems und der Errichtung erster Regierungsgebäude. Nach Weltkrieg und wechselnder Besatzung versuchte das bitterarme und rückständige Land sich am planmäßigen Aufbau nach den Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlichen Sozialismus. Die Führung suchte dabei nacheinander die Anlehnung an Belgrad, Moskau und Peking, um stets bald wieder mit dem neuesten Bruderstaat zu brechen, wenn dieser nach dem Urteil des orthodox-stalinistischen Enverismus vom rechten Weg abgekommen war. Am Ende stand der Wahn der Autarkie, gespeist von der Paranoia des Alleinherrschers und den alten Erfahrungen mit den feindlichen Nachbarn.(3) Umso überraschender, dass die albanische Staatsarchitektur sämtliche Wandlungen vom Zuckerbäcker-Klassizismus zu lokalen Spielarten der Moderne mitmachte, die auch für die anderen staatssozialistischen Länder typisch waren.(4)

SCHICHTEN

Die Lagegunst der von Hügel- und Gebirgsketten eingefassten Ebene um Tirana zeigt sich an der Siedlungskontinuität seit dem Paläolithikum. Im Stadtgebiet selbst ist eine im 6. Jahrhundert von Kaiser Justinian errichtete Festung das älteste Siedlungselement. Die Geschichte Tiranas als Stadt beginnt allerdings spät. An der Kreuzung zweier Handelsstraßen ließ 1614 ein lokaler Feudalherrscher eine Moschee, ein Badehaus und einen Markt einrichten. Der dem Idealtyp einer kleinen orientalischen Stadt entsprechende Ort wurde fortan als "Tehran" bezeichnet. Bis ins 20. Jahrhundert blieb der um weitere Siedlungskerne erweiterte Ort allerdings relativ unbedeutend, wenn auch die Einwohnerzahl stetig wuchs.
Abb. 1
Markt um 1900 östlich der Et'hem-Bey-Moschee.

Während des ersten Balkankrieges wird 1912 die Unabhängigkeit Albaniens ausgerufen, dessen Existenz bald die Expansionsgelüste seiner Nachbarn weckte. Voraussetzung für die die Erhebung Tiranas zur Hauptstadt nach dem Kongress von Lushnja 1920 war der ungefestigte, traditionslose Charakter des neuen Staatswesens. Ein durch die Jahrhunderte lange Türkenherrschaft in bittere Armut und archaische Zurückgebliebenheit gebanntes Gebiet brauchte ein starkes Zeichen des Neubeginns. Tirana in seiner zentralen und neutralen Lage sollte zum verbindenden Element zwischen den landschaftlich, konfessionell und kulturell zerrissenen Landesteilen werden, die damals unter dem Einfluss konkurrierender in- und ausländischer Mächte standen. Am Schnittpunkt zwischen westlicher Küstenebene und Gebirgsland gelegen vermittelte die Stadt zwischen den Teilstämmen der Gegen im Norden und der Tosken im Süden.

Abb. 2
Stadtstruktur Tirana 1921.

Soziale Gegensätze, das schwache Bürgertum und der dominante Einfluss der Großgrundbesitzer erschwerten die demokratische Entwicklung des Landes in den 1920er Jahren. Mit den Krediten der so genannte Tiranapakte 1926 und 1927, die Albanien faktisch zu einem Protektorat Mussolinis machten, wurde der Ausbau Tiranas vorangetrieben. Zentrales Motiv war dabei eine große, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Monumentalachse, welche die neue Stadtmitte bildeten und von derem autoritären Gestus ältere Bau- und Raumstrukturen überformt werden sollte. Die Idee zu dieser großräumigen Neuordnung durch Hausmannisierung wurde bereits in den frühen 1920er Jahren durch österreichische Architekten formuliert,(5) erste durchgearbeitete Entwürfe lieferte dann Armando Brasini 1924-1925. Die zugeordnete neubarocke Monumentalarchitektur wurde aber nicht realisiert. Fertiggestellt wurde aber der breite Straßendurchbruch entlang des nördlichen Teils der Hauptachse sowie erste Regierungsbauten am südlichen Skanderbeg-Platz.
Mit Beginn des 2. Weltkrieges 1939 wurde das Land endgültig von Italien annektiert, Tirana planmäßig unter der Leitung Gherardo Bosios zum imperialen Machtzentrum ausgebaut. Der 1939-40 entwickelte Generalbebauungsplan sah nun die vollkommene Überformung Tiranas vor, wobei zu der großen Hauptachse ein radiales Straßensystem treten sollte. Als Bebauungsmuster war jenseits der von öffentlichen Bauten gekennzeichneten Hauptachse vorwiegend offene Blockrandbebauung vorgesehen.
 
Abb.3
Generalbebauungsplan von Gherardo Bosio 1939/40.

Nach der Befreiung von Faschismus und der deutschen Besatzung 1944 durch Enver Hodschas kommunistische Partisanen wurde Tirana zur Hauptstadt eines sozialistischen Staats. Um die Hauptachse entstand die typisch monumentale Staatsarchitektur des Realsozialismus, den Versuch einer nachholenden Modernisierung versinnbildlichend.
 
Abb. 4
Gegenwärtiger Zustand der Monumentalachse.

All diese Zeitabschnitte sind im Stadtkörper Tiranas ablesbar, zeigen sich in Ensembles und Einzelbauten. Die älteste Schicht bilden die östlich der Monumentalachse gelegenen, baulichen Hinterlassenschaften der Türkenzeit, von denen insbesondere die Et'hem-Bey-Moschee, das Toptani-Haus sowie das noch in Relikten vorhandene Basarviertel zu nennen sind.
Abb. 5
Et'hem-Bey-Moschee (1820/21), eine für den Balkan typische Ein-Kuppel-Moschee mit vorgelagerter Säulenhalle und Minarett.

Die große Monumentalachse bildet die Mitte der Stadt und damit zugleich die des albanischen Staats, dessen wichtigste Institutionen sich hier baulich manifestieren. Unterschiedlich geweitete und eingefasste Straßen, Plätze und Parkanlagen folgen im Verlauf. Unzureichend ist der nördliche Abschluss, da das Bahnhofsgebäude nur als barackenartiges Provisorium seitlich der Bahngleise existiert. Städtisch-geschlossen mit zumeist drei- bis fünfgeschossiger Bebauung ist der als Bulevardi Zogu I. bezeichnete Abschnitt zwischen Bahnhof und dem Skanderbegplatz, der großzügig geweitet, beinahe auseinander fallend im Norden von großen, solitär stehenden Monumentalbauten der 1960er und 70er Jahre eingefasst wird (Nationaloper, Nationalmuseum, Hotel International mit seiner aus einem breiten Sockel aufstrebender Höhendominante). Im Süden des Platzes stehen, den Platz schräg abschließend, dreigeschossige Regierungsgebäude der italienischen Einflusszeit (1930er Jahre, Architekt: Vittorio Morpurgo).
Abb. 6
Regierungsbauten der italienischen Einflusszeit (Architekt: Vittorio Morpurgo) auf einer Postkarte der späten 1950er Jahre.

An diese schließt sich eine geweitete, parkähnliche Grünzone an, in der solitär die nationale Kunstgalerie (1980er Jahre), das Hotel Dajti (1940) sowie das skulptural ausgeformte Kulturzentrum Taiwan (2000er Jahre) stehen. Die im Zug der Hauptstadtplanung um 1930 regulierte Lana mit dem parallel verlaufenden Bulvardi Bayram Curri trennt die südlichen Raumfolgen ab.
Abb. 7
Regulierung der Lana, im Hintergrund das Hotel Dajti im Rohbau (Aufnahme 1930er Jahre).


Deren städtebauliches Grundmotiv ist ein seltsames Beispiel monumental-faschistischer architettura parlante, die weitgehend auf Gherardo Bosio und seine Mitarbeiter zurückgeht. Sie ist nur von oben, aus dem Flugzeug heraus sichtbar: Die Stadt in Form eines Liktorenbündels, mit dem Bulevardi Dëshmorët e Kombit (ehem. viale dell impero) als Stiel, dem Fußballstadion als Klinge und den um den Sheshi Nene Teresa (Mutter-Teresa-Platz) angeordneten Monumentalbauten als stumpfer Hinterseite des Beils. Hier wurde die casa del fascio (heutige technische Universität) als Achsabschluss angeordnet, seitlich begleitet von der opera dopolavoro albaneze (heutiges archäologisches Museum) und dem Komplex des gioventu del litorio albaneze (heutige Kunsthochschule).(6) Grünstreifen trennten zwecks besserer Erkennbarkeit das 'Liktorenbündel' von der begleitenden Bebauung. Hier ist insbesondere das Blockviertel zu nennen, das ebenfalls noch aus der Königs- bzw. italienischer Besatzungszeit stammt und in offener, parkähnlich durchgrünten Villenbebauung den jeweiligen Eliten vorbehalten war. Die kommunistische Nomenklatura nahm hier gerne nach der Befreiung Platz und an der Ostflanke, zur Prachtstraße, wurde das Zentralkomitee der albanischen KP in den 1950er Jahren als Abschluss und Manifestierung der neuen Machtverhältnisse gebaut. Sukzessive folgte eine Besetzung des Grüngürtels mit großen Solitärbauten, um die Bildwirkung des ursprünglichen Konzepts zu verwischen. Zu nennen sind insbesondere die ehemalige sowjetische Botschaft (1950er Jahre, heutiger Sitz des Staatspräsidenten), die so genannte Pyramide (1980er Jahre, ehem. Mausoleum für Enver Hodscha) oder der Kulturpalast (ebenfalls 1980er Jahre).

Abb. 8
Stadtbauliche Figur in Form eines Liktorenbündels (aktueller Zustand)


(1) Der Text behandelt die Entwicklung Tiranas bis zur politischen Wende um 1990. Für die Darstellung der danach einsetzenden Hyper-Urbanisierung, verbunden mit einer Krise staatlicher Regulations- und Planungsmechanismen, ist eigenes Kapitel geplant.
(2) Zur frühen Stadtgeschichte siehe Kera, Gentiana: Aspects of the urban development of Tirana 1820-1939, Vortragsmanuskript 7th international conference of urban history, Athen 2004, S. 1-3.
(3) Zur Geschichte Albaniens siehe Bartl, Peter: Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 1995.
(4) Als Beispiel seien die zentralasiatischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion genannt. Ronneberger, Klaus und Georg Schöllhammer: Lokale Modernen. Tl.2. Simulakren des Nationalen. Sowjetische Architektur und Städtebau in Zentralasien. In: Archplus 178 (2006), S. 12-17. Des Weiteren das ehemalige Jugoslawien. Einige wichtige Beispiele sind dokumentiert in: Schweizerisches Architekturmuseum, Francesca Ferguson und Kai Vöckler (Hrsg.): Balkanology. Neue Architektur und urbane Phänomene in Südosteuropa. Basel 2008 (=Publikationsreihe des S AM - Schweizerisches Architekturmuseum 6).

(5) Shkreli, Artan: 25 Jahre Stadtplanung in Tirana von 1916-1941. In: Stiller, Adolph (Hrsg.): Tirana. Bauen – Planen – Leben. Salzburg 2010 [Ausst.Kat.=Architektur im Ringturm 23], S. 21-41, hier S. 24
(6) Der große städtebauliche Gesamtplan zur Umgestaltung Tiranas als Hauptstadt der albanischen Kolonie wurde von Gherardo Bosio (1903-1941) entwickelt. http://www.tirana.gov.al/?cid=2,13,89 Zuvor hatte dieser Äthiopiens alte Kaiserstadt Gonard nach der italienischen Okkupation umgestaltet. Bosio erkrankte während seiner Arbeit in Tirana und starb 1941 in Florenz. Er gilt als wichtiger Vertreter der Florentiner Schule, einer Richtung des italienischen Rationalismus, die aber gemäßigter und konventioneller blieb und daher der offiziellen Linie näher stand.

Literaturauswahl:

Aliaj, Besnik: A short history of housing and urban development models during 1945-1990, Tirana 2003, http://tiranaworkshop10.pbworks.com/f/besnik%2Baliaj%2Bhistory%2Bhousing%2Balbania%202.pdf  
Becker, Hans: Die albanische Stadt. Beiträge zur Erfassung eines regionalen Stadttyps. In: Becker, Hans (Hrsg.): Jüngere Fortschritte der regionalgeographischen Kenntnisse über Albanien. Beiträge des Herbert-Louis-Gedächtnissymposions, Bamberg 1991 (=Bamberger geographische Schriften 10), S. 115-126.
Bodenschatz, Harald  (Hrsg.): Städtebau für Mussolini. Auf der Suche nach der neuen Stadt  im faschistischen Italien. Berlin 2008 (=Schriften des Architekturmuseums der Technischen Universität Berlin 4), S. 387-393. (Abschnitte über Albanien während italienischer Einflusszeit und Kolonialisierung, zudem Zusammenfassung über den Städtebau im ‚italienischen Ausland‘)
Bleta, Indrit: Influences of political regime shifts on the urban scene of a capital city. Case study: Tirana, Masterarbeit, Ankara 2010, http://etd.lib.metu.edu.tr/upload/12612184/index.pdf 
Kera, Gentiana: Aspects of the urban development of Tirana 1820-1939, Vortragsmanuskript 7th international conference of urban history, Athen 2004, http://library.panteion.gr:8080/dspace/bitstream/123456789/444/1/KERA.pdf
Lienau, Cay: Bericht über eine Exkursion nach Albanien vom 19.09.-29.09.1982. In: Lienau, Cay und Günther Prinzing (Hrsg.):Albanien. Beiträge zur Geographie und Geschichte, Münster 1986 (=Berichte aus dem Arbeitsgebiet Entwicklungsforschung am Institut für Geographie Münster 12), S. 16-42.
Lubonja, Fatos: Das zweite Erwachen des Enver Hoxha. In: Raabe, Katharina und Monika Sznajderman (Hrsg.): Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas, Berlin 2006, S. 243ff. (Prosatext mit Stadtbeschreibung Tiranas)
Stiller, Adolph (Hrsg.): Tirana. Bauen – Planen – Leben. Salzburg 2010 [Ausst.Kat.=Architektur im Ringturm 23].
(3) In: Bodenschatz, Harald (Hrsg.): Städtebau für Mussolini. Auf der Suche nach der neuen Stadt  im faschistischen Italien. Berlin 2008 (=Schriften des Architekturmuseums der Technischen Universität Berlin 4), S. 389.
(4) Plan der Hauptachse Tiranas auf Grundlage der städtischen GIS-Systems. Bearbeitung durch den Verfasser.
(5) Foto des Verfassers, Oktober 2009
(6)
http://shqipfoto.livejournal.com/2007/01/22/
(7) http://art-agenda.com/shows/view/750

(8) Plan auf Grundlage des städtischen GIS-Systems. Bearbeitung durch den Verfasser. 


Historische Karten

Fotos 20. Jh

Punktuell berichtigt, überarbeitet und erweitert unter Einbeziehung neuerer Forschungsergebnisse im Februar 2012.

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