Sonntag, 19. Dezember 2010

Early Modernism - Buffalo (NY)

Buffalo, unweit der Einmündung des Niagara in den Eriesee gelegen, war die erste Station an den großen Seen auf dem langen Weg Amerikas nach Westen. Mit dem Beginn der Erschließung des Mittleren Westens durch die Eröffnung des Eriekanals 1825 setzte ein starkes Bevölkerungswachstum ein, so dass Buffalo bis 1900 zur achtgrößten Stadt der USA angewachsen war. Auch nach der Jahrhundertwende setzte sich zuerst die Aufwärtsentwicklung zu einem industriellen Zentrum fort. Allerdings fiel Buffalo nach den großen Stahlkrisen der 1970er Jahren und der Abkoppelung vom großräumigen Infrastruktursystem der Großen Seen wieder auf den Stand von 1900 zurück, so dass die Bevölkerung heute nur noch ca. 270.000 Einwohner beträgt.

Abb.1: 1911 erstelltes Panorama Buffalos um die zentralen Pearl und Church Streets.

Zeugnisse der einstigen Bedeutung der Stadt sind einige Masterpieces des frühen Modernismus, die für ihre jeweilige Bauaufgabe Maßstäbe setzten. Neben den besprochenen Guaranty Building und der Vorstadtvilla Martin House gab es mit dem Larkin Administration Building (1904/6 von F.L.Wright) noch eine weitere Ikone der Moderne, die aber leider bereits 1950 abgebrochen wurde.


DARWIN D. MARTIN HOUSE (Frank Lloyd Wright)

Das 1903/5 für die Familie des Industriellen Darwin D. Martin errichtete Wohnhaus war eines der ersten Präriehäuser Frank Lloyd Wrights. Die Lage im zwar durchgrünten, aber dennoch relativ dicht bebauten Villenvorort widerspricht der landläufigen Vorstellung des Prairie Houses als einem eng mit der landschaftlichen Weite des Mid West verbundenen Wohnhaus. Besonders deutlich wird dagegen das Neuartige des Martin Houses in der von konventionellen Wohnhäusern des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägten Umgebung. Hatte bislang auch in den USA europäischer Akademismus die suburbane Villa als Wohnform der Oberschichten bestimmt, so nahm die Suche nach neuen Formen hier nun erstmals spezifisch amerikanische Formen an. Antrieb war die sowohl in Europa wie den USA spürbare Krise des späten Historismus, deren 'hoher' Stilarchitektur entlehntes Vokabular zunehmend als überlebt empfunden wurde.

Abb. 2.: Martin House von der Straße.

Das hochgradig formalisierte innere Gefüge des Martin Houses basiert auf einem quadratischen Modul, das entlang eines System über- und untergeordneter Achsen entwickelt wird. Dabei ist der Grundriss offen um ein Zentrum organisiert, dem für das Präriehaus typischen Kamin. Der Großteil der Räume ist kreuzförmig angeordnet, Gruppen von im Quadrat angeordneten Stützen gliedern das Raumgefüge. Die geschlossene Wand wird durch dieses Stützensystem aufgelöst.(2) Nach außen artikuliert sich das Gebäude als Gefüge unterschiedlich hoher, horizontaler Baukörper, die sich entlang des Achsensystems entwickeln und durch die für Lloyd typischen flachen Walmdächer bestimmt werden. Dabei werden die Volumina in unterschiedlich gestaffelte Vorzonen aufgelöst, was durch die nach außen tretenden Scheiben und Pfeiler verstärkt wird. Ein Spiel unterschiedlich tiefer Schatten und Silhouetten entsteht.

 Abb. 3: Grundriss des Martin Hauses. Analyseelemente.

Vergleicht man das Gebäude mit älteren Wohnhausbauten Frank Lloyd Wrights wie beispielsweise dem Winslow House (1893, River Forest/Illinois), dann wird deutlich, wie weit Wright in der Weiterentwicklung bereits verwendeter Themen am Martin House gegangen ist. Das Winslow House stand in seiner Zweigeschossigkeit, straffem Umriss und symmetrischem Gesamtaufbau noch in deutlich italianisierender Villentradition. Auf der Gartenseite ist das Haus dagegen partiell ins Asymmetrische aufgelöst, was der Trennung in öffentlich und privat bzw. städtisch und ländlich entspricht. Diese unter die Begriffe monumental versus malerisch subsumierbaren Gegensatzpaare sind bestimmend für die gehobene, suburbane Wohnhausarchitektur der zweiten Jahrhunderthälfte, nicht nur in den USA.(1) Bereits das Winslow House wird durch ein allerdings eindeutigeres Achsensystem bestimmt. Übergeordnet ist die zentrale Mittelachse, über die der Zugang von der Straße inszeniert wird. Die Raumfolge Straße - Vorplatz mit Pflanzbecken - Freitreppe mit Eingang - Reception Hall - Freitreppe mit Arkatur zelebriert diesen Eingang, der aber nicht, wie zu erwarten wäre, in einen axial liegenden, rückwärtigen Gartensaal führt, sondern am Kamin endet, dem eindeutigen Zentrum des Hauses. Die Haupträume des Repräsentationsgeschosses ordnen sich um diesen Mittelpunkt, in den Mittelachsen öffnet sich der massive, geschlossene Hauskörper über unterschiedlich geformte Standerker nach außen. Untergeordnet ist die seitliche Zufahrt mit der gedeckten Vorfahrt (Porte Cochere), von der aus ein Nebeneingang zum Treppenhaus in die privaten Obergeschossräume führt.

 Abb. 4: Winslow House. in der Mittelachse liegende Reception Hall mit Freitreppe und Kaminpodest.

Die Weiterentwicklung des Martin Houses bestand nun darin, die Thematik des Achsensystems und der Ordnung um den Kamin aufzugreifen und an einen Punkt zu treiben, bei der durch Eigengesetzlichkeit Bekanntes in Neues transformiert wurde. Dabei wird hier Unvorhergesehenes, das bislang mit dem irrational Malerischen konnotiert war, quasi mit dem Mittel des Monumentalen, der Achse, erzielt. In seiner Komplexität ist das Haus mit rationalen Mitteln nicht unmittelbar erfassbar, erschließt sich selbst nicht bei mehrmaligem Durchschreiten. Erst intensives Planstudium führt zum Verständnis, wobei fasziniert, dass nichts unlogisch oder nicht nachvollziehbar ist. Der Zufall ist ausgeschaltet, das Überraschende wird aus Kombination, Überlagerung und formalen Transformationen gewonnen. Monumentalität ist ins Gegenteil umgeschlagen, ohne dabei Konzessionen an malerisch Komponiertes zu machen: nicht pittoresker Antimonumentalismus. Das Martin House ist aber auch eines am Scheideweg, denn bei späteren Präriehäusern Wrights wie beispielsweise dem Robie House (1908-10, Chicago/Illinois) ist die Formalisierung zurückgenommen, sie wirken reifer und routinierter, haben aber an Radikalität und Prägnanz verloren. Es scheint, dass es F. L. Wright immer besser gelungen ist, die Elemente des Neuen wie Betonung der Horizontalität, Verknüpfung von Baukörpern entlang von Achsen oder die Auflösung der Wände zu tatsächlich wohnlichen Formen zu ordnen. Denn eine gewisse Unbewohnbarkeit oder fehlende Funktionalität zeigen sich beispielsweise an den ständigen Bewegungswechsel im Martin House, die sich exemplarisch am Zugang von der Zufahrt ins Haus über mehrere Ecken zeigen.
Der stark formalisierende Aspekt des Martin Houses hat dazu geführt, dass beispielsweise Peter Eisenman in seiner 1963 erschienenen Dissertation das Gebäude ausführlich besprochen hat, in dem er ein Schlüsselwerk zum Verständnis der Moderne sah.(3) Sein Interesse an dem Gebäude erklärt sich aus seinem damaligen Bemühen, in Architektur eine universale Sprache zu sehen, die unabhängig von Historizismen aus formalen, geometrisch-syntaktischen Beziehungen besteht. Diese Beziehungen sind von subjektivem Ausdruck gereinigt und können auch nicht durch Überlegungen zu Funktion, Bedeutung oder Wahrnehmung verstanden werden. Zentrales Erkenntnismoment ist die Form, deren spezifische wie allgemeine Merkmale als Grundlage architektonischer Erfindung und Komposition gesehen werden. So werden in seiner Analyse die Einzelelemente des Hauses als Abfolge geometrisch-struktureller Permutationen dargestellt.

Folgt man dagegen Interpretationen, die mehr auf die Bedeutungs- oder Wahrnehmungsebene des Gebäudes abzielen, dann wird das Haus zu einem frühen Vertreter des Präriehauses im Zusammenhang einer längeren Entwicklungsreihe. Beispielsweise hat Kenneth Frampton betont, dass im Martin House zugleich die Emanzipation von Europa wie ein spezifisch amerikanisches Maschinenzeitalter zum Ausdruck komme, das mit Elementen des Exotismus, hier vor allem des Japanismus angereichert wurde. Dies sei dem für den in der Tradition der Chicago School stehenden Lloyd der neuen Zeit mehr entsprechend gewesen als der überlebte europäische Akademismus.(4) Auch spielte die Idee des Gesamtkunstwerks als Einheit aus Architektur und Ausstattung in der Tradition des Arts and Crafts Movements eine Rolle. In der Tradition amerikanischer Naturromantik eines Walt Whitman verherrlichen die Präriehäuser die natürliche ruhige Schönheit der Weite des Mittleren Westens, was insbesondere in den schützenden Überhänge, niedrigen Terrassen, ausgreifenden Wände sowie abgesonderte Gärten zum Ausdruck komme.

GUARANTY BUILDING (Adler&Sullivan)

Das 1894/95 für eine Versicherungsgesellschaft errichtete Gebäude stellt in der Entwicklungsgeschichte des Chicago Skyscrapers einen Meilenstein dar.(5) Erstmals sind selbst im Dekor alle Relikte des Historismus abgestreift, wenn auch der dreiteilige Gesamtaufbau in Sockelzone, Fassade und Dachzone dem Modell der in Basis, Schaft und Kapitell gegliederten antiken Säule folgt. Der dreizehngeschossige Bau hat auf seiner Hauptseite oberhalb der Sockelzone zwölf eng durch aufsteigende Pilasterbahnen artikulierte Achsen, die nach oben durch die in den 1890er Jahren oft verwendete Bogenstellung abgeschlossen werden. Die stehenden Einzelfenster sowie die mit Terrakottaplatten verkleideten Brüstungsplatten sind zurückgesetzt. Die Dachzone wird stark durch die Reihung aus Rundfenstern sowie ein voutenartig vortretendes Dachgesims akzentuiert, die den Zug ins Vertikale abrupt abbremsen. Durch den Willen zur starken Betonung der Senkrechten bildet sich das deutlich weitmaschigere Stahlskelett nicht nach außen ab. Im Dekor wird dagegen die Tektonik, die hier eine scheinbare ist, betont. Die Konstruktion wird verziert anstelle der bislang weit verbreiteten konstruierten Verzierung. Beinahe in Art einer Tätowierung wird das Gebäude mit dekorativ-graphischen Terrakottaplatten überzogen, deren Formensprache außereuropäische Entlehnungen aufweist, aber einen völlig eigenständigen Charakter hat. In dieser Textilität kann man eine spezifisch amerikanische Interpretation der Semperschen Architekturtheorie von innerer Konstruktion und vorgehängter Hülle bzw. 'Kern' und 'Stilhülse' sehen.(6)
 Abb. 5: Guaranty Building.

(1) Zum Gegensatzpaar malerisch-monumental siehe vor allem Brönner, Wolfgang: Die bürgerliche VIlla in Deutschland, 2. Aufl., Worms 1994. Zur Entwicklung im frühen 20. Jahrhundert, die in Deutschland vor allem mit Landhausarchitektur und dem Traditionalismus um 1910 verbunden ist, siehe vor allem Posener, Julius: Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur 1889-1918, Berlin 1979. Neuere Einblicke in die mitteleuropäische Entwicklung bieten vor allem Stalder, Laurent: Hermann Muthesius (1861-1927). Das Landhaus als kulturgeschichtlicher Entwurf, Zürich 2008, sowie Ehmann, Arne: Wohnarchitektur des mitteleuropäischen Traditionalismus um 1910 in ausgewählten Beispielen; Betrachtungen zur Ästhetik, Typologie und Baugeschichte traditionalistischen Bauens, Diss., Hamburg 2008. An den hier besprochenen Beispielen wird das Auseinandertreten der europäischen und amerikanischen Entwicklung deutlich.
(2) Posener, Julius: Frank Lloyd Wright I. In: Archplus 48 (1979), S. 32-37, hier S. 35.
(3) Eisenman, Peter: Die formale Grundlegung der modernen Architektur (deutschsprachige Ausgabe), New York/Zürich 2005 (=Studien und Texte zur Architekturtheorie, hrsg. von Werner Oechslin), S. 164 und 169-181.
(4) Frampton, Kenneth: Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte, Stuttgart 1983, S.53f.
(5) Zur Entwicklung des Chicago Skyscrapers siehe auch Stadtlektüre - New York 7. Grundlegend ist Klotz, Heinrich: Das Chicagoer Hochhaus als Entwurfsproblem. In.: Zukowsky, John (Hrsg.): Chicago-Architektur 1872-1922. Die Entstehung der kosmopolitischen Architektur des 20. Jahrhunderts [Ausst.-Kat.], München 1987, S. 59-77. Dabei bezieht er sich auf George Kublers Theorie von der Autonomie künstlerischer Probleme, die sich in formalen Sequenzen bzw. Entwicklungsreihen zeigt. Vgl. Kubler, George: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge (engl. Ausgabe: The shape of time. Remarks on the history of things, New Haven/London 1962), Frankfurt/Main 1982. 
(6) Frampton, Kenneth: Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München/Stuttgart 1993, S. 99-127.

Abbildungsnachweis:
Abb. 1: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/76/Buffalo_Panorama_1911.jpg
Abb. 2: Fotos des Verfassers, Juli 2009.

Abb. 3: Umzeichnung durch den Verfasser. Grundlage: http://lcweb2.loc.gov/cgi-bin/displayPhoto.pl?path=/pnp/habshaer/ny/ny0200/ny0203/sheet&topImages=00003a.gif&topLinks=00003r.tif,00003a.tif&title=&displayProfile=0
Abb. 4.: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Entrance_Hall_-_William_H._Winslow_House,_Chicago,_IL_.jpg
Abb. 5: Fotos des Verfassers, Juli 2009.

Weblinks:
http://www.darwinmartinhouse.org/
http://en.wikipedia.org/wiki/Prudential_%28Guaranty%29_Building_%28Buffalo,_New_York%29

Literaturauswahl:
Eisenman, Peter: Die formale Grundlegung der modernen Architektur (deutschsprachige Ausgabe), New York/Zürich 2005 (=Studien und Texte zur Architekturtheorie, hrsg. von Werner Oechslin), S. 168-181.
Frampton, Kenneth: Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte, Stuttgart 1983, S.46-56.
Frampton, Kenneth: Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München/Stuttgart 1993, S. 99-127. (Kapitel 4 Frank Lloyd Wright und die text-tile Tektonik).
Klotz, Heinrich: das Chicagoer Hochhaus als Entwurfsproblem. In.: Zukowsky, John (Hrsg.): Chicago-Architektur 1872-1922. Die Entstehung der kosmopolitischen Architektur des 20. Jahrhunderts [Ausst.-Kat.], München 1987, S. 59-77.

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