Sonntag, 21. November 2010

Stadtlektüre - New York 7

-TYPEN: 5/skyscraper1/extrusion-

Antrieb zur Entwicklung des Skyscrapers war die optimale Bodenverwertung, die anders als in Europa, auf keine Höhenbegrenzung von behördlicher Seite traf. Bedingung war die spezifische amerikanische Art der urbanen Parzellierung (vgl. Stadtlektüre New York 2 -block-), technische Voraussetzungen die bereits in den 1850er Jahren gemachte Erfindung des Aufzuges (vgl. Stadtlektüre New York 5 -loft & store-) sowie die Einführung des verkleideten Stahlskelettbaus. Nach außen wird, bedingt durch die Bindung aller Architektur an den immer gleichen Baublock, die Fassade neben der Gebäudehöhe zum bestimmenden Entwurfsmoment, mit dem Differenz gestiftet wird.

Die Eroberung der Lüfte, zugleich Herausbildung eines spezifisch amerikanischen Stadthaustypen, ging aber nicht von New York aus, sondern von Chicago. Nach dem Stadtbrand von 1871 mit 17.000 zerstörten Gebäuden und der dadurch geschaffenen tabula rasa stellte sich beim Wiederaufbau hier zuerst das Entwurfsproblem des hohen Turmhauses.(1) Durch das sukzessive Lösen von zuerst verwendeten historistischen Mustern wurden eigene, der neuen Bauaufgabe entsprechende Ausdrucksformen entwickelt. So waren die ersten, noch deutlich horizontal orientierten Vertreter auf teilweise blockgroßen Parzellen nichts anderes als überdimensionierte Renaissancepalazzi. Ein Beispiel hierfür ist 1890 errichtete Manhattan Building (Arch.: William Le Baron Jenney). Mit zunehmender Höhenentwicklung wurden diese Vorbilder aber zunehmend obsolet, da zur Geschossausbildung nur maximal fünf in Superposition gestellte Säulenordnungen zur Verfügung standen. So kam als weitere Referenz die Gotik ins Spiel, bei der die Vertikale betonenden Dienste des Kathedralenbaus sich als Lösungsmöglichkeiten anboten. Dies wurde in unterschiedlicher Weise am Second Leiter Building (1891, Arch.: William Le Baron Jenney) oder am Reliance Building (1895) bzw. Fisher Building (1896, beide von Daniel Burnham) verwendet.(2) In der nächsten Entwicklungsstufe werden die letzten Relikte historistischer Pilasterordnungen abgestreift, die Vertikale steigt über den Sockelgeschossen bis an die Traufzone auf. Beispiele hierfür sind das Wainwright Building in St. Louis (Missouri, 1890/91) und das Guaranty Building in Buffalo (NY, 1894-96, beide von Dankmar Adler und Louis Sullivan).

Dieser von Chicago ausgehende Entwicklungs- und Ablösungsprozess vom Historismus und dessen Gliederungs- und Fassadensystemen ist bei den ersten Vertretern des New York Skyscrapers schon weitgehend abgeschlossen. Und wie dort nahm der neue Stadthaustyp auch in New York zuerst die Form eines ungegliedert aufsteigenden Volumenkörpers an, quasi als Extrusion der vollständig ausgefüllten Grundfläche der Bauparzelle. Diese wird mit einer Stapelung aus Typical Plans gefüllt, der eigenschaftslosen und daher unbegrenzt mit Bedeutung und unterschiedlicher Nutzung aufladbaren amerikanischen Erfindung für den neuen Stadthaustypen.(3)

Abb.1: Bayard Building, 1897 von L. Sullivan und L.P.Smith, 65 Bleeker Street.

Die erste Phase des New York Skyscrapers fällt in die Zeit kurz vor der Jahrhundertwende bis zur Einführung der New York City 1916 Zoning Resolution. Schwerpunkt ist das Wall Street Viertel, in dem Grundstücke zu großen Komplexen arrondiert werden, um bis zu blockgroße Parzellen mit den neuen Haustypen zu besetzen. Gentrification takes place.
Das 1897 von Louis Sullivan und L.P. Smith errichtete Bayard Building kann noch als Vorform des Wolkenkratzers bezeichnet werden, da es in seiner frontaler Orientierung eher als Baulückenfüllung interpretiert werden kann. Allerdings ist die Fassade in der in den Jahren zuvor von Sullivan entwickelten Manier durchgearbeitet. Die Vertikale ist deutlich dominierend, historische Referenzen sind nur noch als in die neue Bauaufgabe transformierte erkennbar. Die einseitig zur Straße gerichtete Fassade des zwölfgeschossigen Gebäudes weist fünf Achsen aus gekuppelten Doppelfenstern auf, die nach oben mit Bogenstellung abgeschlossen werden, einer bereits in Chicago oft verwendeten Lösung.(4) Zur kräftigen Traufe wird über ein Band aus fein ornamentierten Terrakottaplatten vermittelt, die Brüstungsfelder sind ebenso ausgebildet. Ein eigenes, von Sullivan entwickeltes, textiles Decorum ist an die Stelle historistischer Ordnungen getreten.(5) Die Sockelzone ist fünfachsig in Schaufenster aufgelöst, ebenso das erste Obergeschoss, das gesondert, quasi noch als Piano nobile behandelt wird. Auch ist im Gegensatz zu anderen, früheren Gebäude von Louis Sullivan, die dieser mit Dankmar Adler realisiert hatte, die plastische Durcharbeitung deutlich weniger kräftig als beispielsweise am Guaranty Building. Des Weiteren sind die Sockelgeschosse deutlich weniger abgesetzt, was der Fassade Geschlossenheit verleiht und der einseitig frontalen Ausrichtung entspricht.

Abb.2: Typical Plan des Flatiron Building.

Im Gegensatz zur ausgereiften Architektur Sullivans und der Chicago School wirken die Skyscraper New Yorks eher veraltet und im Bann des Akademismus stehend, wobei hier insbesondere die französische Beaux-Arts-Schule zu nennen ist. Der erste wirkliche Wolkenkratzer New Yorks ist das 1902/3 errichtete Flatiron Building (auch Fuller Building, Arch: Daniel Burnham, Chicago) mit seinen 22 Geschossen. Auch dieses weist noch eine Sonderform auf, da es auf einer dreieckförmigen Parzelle am aus dem Manhattan Grid springenden Broadway liegt, ist aber schon allseitig wirkend. Deutlicher als am Bayard Building ist die Dreiteilung in Sockel, Schaft und abschließender Dachzone ausgebildet. Wenn auch der Gesamteindruck eher flächig ist, so werden die einzelnen Geschosszonen deutlicher differenziert. Insbesondere der obere Abschluss ist kräftig durch große, über mehrere Geschoss durchlaufende Vertikalen akzentuiert, was typisch für das New Yorker Hochhaus dieser Zeit wird.

Mit dem fünfziggeschossigen, 1909 errichteten Metropolitan Life Tower (Arch.: Napoleon Le Brun & Sons) wird ein weiteres Thema in den New Yorker Hochhausbau eingeführt: Die Verbindung aus Turm und Block, mit dem beinahe der für die 1920er Jahre typische, vielfältig gegliederte Skyscraper in noch etwas ungelenker Form vorweggenommen wird. Der Metropolitan Life Tower entstand als Aufsatz auf das bereits 1893 gebaute, blockgroße Metropolitan Life Building. Das Hohe begann Prestige zu generieren. Ironischerweise zitiert das für eine Versicherung gebaute Gebäude den 1902 eingestürzten und danach wiedererrichteten Campanile di San Marco als übergroßes Bild. Ebenfalls als Aufstockung entsteht das 1905-1908 gebaute Singer Building (Arch. Ernest Flagg, 183m). Mit dem 1910-1913 errichtete Woolworth Building (Arch. Gass Gilbert) wird das bisher durch Addition entstandene Thema aufgenommen und konsequent als Einheit in fein vertikaler Linienführung durchgearbeitet.

Am 1915 fertig gestellten, 164m hohen Equitable Building (Arch.: Graham, Anderson, Probst & White) wird das Problem der ungegliedert aufsteigenden, extrudierten Baumassen deutlich. Das h-förmige, fast brutal-monumental wirkende Volumen führt zu massiver Verschattung der Umgebung und macht die Straße zur schmalen Schlucht in einem Baugebirge. Das 1916 eingeführte Zoning Law beendet diese Missstände. Eine neue Phase des Skyscrapers bricht an.


Abb.3: Equitable Building (Postkarte vor 1919).

Rem Koolhaas hat in Delirious New York eine erweiterte Lesart der Frühzeit des New York Skyscrapers angeboten.(6) In Form eines in die Vergangenheit zurückprojizierten Manifests sieht er hier die Mächte am Werk, die in Art einer neuen Architecture without architects die Hauptstadt des 20. Jahrhunderts produzieren. Unvorhergesehenes und Bedeutungsvielfalt, geboren aus dem Geist strikten Utilitarismus' - ohne Theorie, Doktrin oder Manifest. Dabei sieht er drei urbanistische Durchbrüche am Werk, die im Block mit aufgesetztem Turm kulminieren: Vervielfachung der Welt, Annexion des Turmes und Block für sich. Im Woolworth Building als Kathedrale des Kommerzes werden diese Einzelelemente zum ersten Mal als Einheit manifest.
Vervielfachung der Welt bedeutet Stapelung aus unterschiedlich programmierbaren Ebenen mit Hilfe des Typical Plans. Das Haus wird zur Stadt in der Stadt. Im Aufsetzen des hohen Hauses, der zum Leuchtturm im metropolitanen Meer wird, multiplizieren sich die Bedeutungen des Turms als Generator des Neuen: Türme weisen fortan auf akute Brüche im homogenen Muster des Alltagslebens hin und bezeichnen die voneinander isolierten Außenposten einer neuen Kultur.(7) Block an sich bedeutet Bedeutungswandel durch Vergrößerung von Parzelle und Gebäude bis zur Blockgröße. Dieser folgt eigenen Gesetzen und eigener Ideologie, wird zum "Park" in der Tradition Coney Islands und generiert eine eigene Wirklichkeit, die an Stelle der natürlichen Wirklichkeit tritt.

Hier noch zum Thema der wachsenden New York Skyline der zwar schwer pathetische, aber doch immer wieder ergreifend schöne Schluss aus den Gangs of New York von Martin Scorsese. Ein Standbild für jede Wachstumsphase vom Ende der Draft Riots bis zum Fall der Zwillingstürme:



(1) Hierzu siehe Klotz, Heinrich: das Chicagoer Hochhaus als Entwurfsproblem. In.: Zukowsky, John (Hrsg.): Chicago-Architektur 1872-1922. Die Entstehung der kosmopolitischen Architektur des 20. Jahrhunderts [Ausst.-Kat.], München 1987, S. 59-77. Zur frühen Entwicklung des Chicago Skyscraper siehe vor allem S. 65-69. Bei diesen ersten Lösungsversuchen erwies sich die Verbindung aus amerikanischem Pragmatismus und von Europa ausgehender Architekturtheorie als äußerst produktiv für die Chicago School of architecture der 1880er und 90er Jahre
.
(2) Klotz, 1987, S. 70f. Die Referenz an die Gotik bezieht sich bei den Beispielen nicht auf die Einzelformen, sondern auf das Prinzip vertikal durchlaufender Stützen in Verbindung mit abschließenden Kapitellen.
(3) O.M.A., Rem Koolhaas und Bruce Mau: S,M,L,XL, Rotterdam 1995, S. 334-351.
(4) Klotz, 1987, S. 72f.

(5) Kenneth Frampton hat spekuliert, ob dieses textile Dekor nicht auf den Einfluss der Semperschen Architekturtheorie zurückzuführen ist, der über deutsche bzw. deutschsprachige Immigranten nach Chicago gekommen ist. So könnte auch Frank Lloyd Wrights text-ile Tektonik erklärt werden, der Dankmar Adler seinen "lieben Meister" (auf deutsch) zu nennen pflegte. Frampton, Kenneth: Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München/Stuttgart 1993, S. 99-102.
(6)  Koolhaas, Rem: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan, 2. deutsche Auflage, Aachen 2002, S. 75-107.
(7) Koolhaas, 1999, S. 69.

Abbildungsnachweis:
Abb. 1: Foto des Verfassers Juli 2009.
Abb. 2: O.M.A., Rem Koolhaas und Bruce Mau: S,M,L,XL, Rotterdam 1995, S. 335.
Abb. 3: http://en.wikipedia.org/wiki/File:NYC_Equitable_Building_Before_1919_postcard.jpg


Weblinks:
http://www.bc.edu/bc_org/avp/cas/fnart/fa267/20_sky1.html



Literaturauswahl:
Stern, Robert A. M.: Die Erbauung der Welthauptstadt. In: Klotz, Heinrich (Hrsg.) in Zusammenarbiet Luminita Saban: New York Architektur 1970-1990 [Ausst.-Kat.], Frankfurt/Main 1989, S. 13-45.

Koolhaas, Rem: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan, 2. deutsche Auflage, Aachen 2002 (=Arch+ Buch 1), S. 75-107.
Klotz, Heinrich: das Chicagoer Hochhaus als Entwurfsproblem. In.: Zukowsky, John (Hrsg.): Chicago-Architektur 1872-1922. Die Entstehung der kosmopolitischen Architektur des 20. Jahrhunderts [Ausst.-Kat.], München 1987, S. 59-77.

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